M - Die Kunst der Entschleunigung

21Okt2015

Was macht man wenn man in seiner Stadt täglich 7,75 Millionen Menschen befördern muss?
Man baut das größte U-Bahn Netz der Welt. Zumindest was die Länge der Strecke angeht. Insgesamt 548km ist es lang. Mit dem Bau angefangen haben Sie 1993 und bis jetzt sind es 14 Bahnlinien und 337 Stationen. Und es werden immer mehr.

Was hat das jetzt mit dem Titel zu tun?

Nehmen wir mal an, dass die Hälfe der 7,75 Millionen Menschen früh auf Arbeit fährt. Dann hat man 3,875 Millionen Fahrgäste am Morgen.

Bleiben wir beim pragmatischen Ansatz: all diese Menschen fahren von einer Station zu einer anderen, das heißt, steigen in 168 Stationen in den Wohngebieten / der Innenstadt ein und an anderen 169 in den Industriegebieten wieder aus. Das wiederum bedeutet, an der einen Station, in der wir heute Morgen eingestiegen sind, steigen im Laufe des morgens knapp 23.000 Menschen ein. Genauso hat es sich heute angefühlt. Wir waren zwei Menschen unter 20.000 in dieser U-Bahnstation. Zwei unter der Hälfte der Einwohnerzahl von Coburg.

Wenn ich jetzt an die U-Bahnen in Deutschland denke, wollen alle schnell noch die nächste erwischen, alles ist hektisch... Hier ist es ganz anders.

Erstens: nahezu alle hier starren auf ihrem morgendlichen Weg in Ihr Smartphone und schauen Filme (während Sie laufen, Rolltreppe fahren, aussteigen, einsteigen und in der Bahnselbst). Das bremst die Masse an Menschen schon mal unglaublich aus. Vor allem da sie dabei logischerweise nur beim Aufblicken einen nicht vorhersehbaren Richtungswechsel machen und dadurch ständig irgendjemand in den eigenen Weg reinläuft. Irgendwann schwimmt man allerdings einfach mit. Die U-Bahn ist aller 3-5 Minuten getaktet. Selbst wenn man sich einfach treiben lässt, erwischt man halt die nächste. Kein Grund zur Eile.

Zweitens sind in den U-Bahnen Tore und vorgegebene Wege eingebaut, die die Massen lenken und durch künstliche Verengungen gezielt verlangsamen. Dabei stehen da immer drei Leute, die aufpassen, dass nix passiert. Wer in Hydraulik aufgepasst hat weiß wie so eine Drossel funktioniert. Die Dichte davor steigt an, dahinter entspannt sich alles. Wenn man selbst mittendrinsteht fühlt sich das wirklich etwas komisch an.

Jetzt mal als zeitoptimierter (wenn nicht sogar hektischer) Deutscher betrachtet ist es wirklich eine Kunst, wie das hier funktioniert. Die Kunst der Entschleunigung.

Auch wir merken nach zwei Wochen U-Bahnfahren das es uns erwischt, ja verändert. Wir werden ruhiger, werden entschleunigt. Vielleicht lad ich mir nächste Woche mal einen Film aufs Handy… Dann muss ich nur noch lernen, wie ich beim Filmguggen kollisionfrei durch die Drossel komme.

Ich werde euch berichten…